Wie entsteht ein digitaler urbaner Zwilling?
Der folgende Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung vom Tagesspiegel Background und wurde dort am 07. Juni 2022 veröffentlicht.
Aktuell bauen Städte weltweit sogenannte urbane digitale Zwillinge. Diese sind – vereinfacht gesagt – digitale Repliken materieller Objekte (wie Gebäude, Straßen, Gewässer) oder immaterieller Prozessketten (wie Verwaltungsabläufe, Bürgerbeteiligungen, Verkehrssteuerung), die auf standardisierten Geodaten aufgebaut sind, die beispielsweise über Sensoren aus der realen Welt bezogen werden.
Die Technologie für die Zwillinge kommt eigentlich aus der Industrie. Bevor etwa eine Schraube oder ein Verbindungselement in echt gebaut wird, wird es durch virtuelle Simulationen vorgeplant und angepasst. Die digitalen Zwillinge begleiten hier bereits den kompletten Entwicklungs-, Produktions- und Betriebszyklus eines Produktes oder Services – schon vor dem eigentlichen Herstellungsbeginn.
Was bei einer Schraube logisch und machbar klingt, soll nun auf ein komplexes System der Stadt übertragen werden. Wir sprechen von dynamischen, virtuellen, interaktiven 3D-Stadtmodellen, die auf kollaborativen Plattformen städtischer Daten basieren, die von Expert:innen und Bürger:innen gleichermaßen genutzt werden können. Die zunehmend mit Sensoren ausgestattete Stadt liefert inzwischen Echtzeitdaten wie beispielsweise Windstärken oder -richtungen, Verkehrsaufkommen oder Wasserstände, welche in ein mehrdimensional dargestelltes Stadtmodell einfließen können.
So ein Modell, das die Stadt detailgenau abbilden kann, dient einerseits zur Illustration der Stadt. Viel wichtiger ist es aber, dass darin aktiv gearbeitet werden kann, dass also modelliert und Aktivitäten durch Szenarien voraussehbar gemacht werden können. Avancierte Twin-Modelle bieten die Möglichkeit von Echtzeit- Interaktionen, so dass beispielsweise die Planung eines Gebäudes, Infrastrukturoptimierung wie Müllentsorgung, Energieflüsse oder Daten von Bürgerbeteiligungen direkt in Modelle des Zwillings einfließen können, um zukünftige Planungszenarien zu simulieren. Ein Twin ist also weitaus mehr als ein Designtool, das die Stadt im hübschen 3D-Modus zeigt. Es geht um das Modellieren von äußerst komplexen Zusammenhängen.
Hamburg, München und Leipzig kooperieren
In Deutschland arbeiten Hamburg, Leipzig und München an einem sogenannten Connected Urban Twin (CUT), finanziert aus dem Bundesbauministerium und seinem Smart-City-Programm. Das Vorhaben nimmt eine Vorreiterrolle in Deutschland ein. Wie der Name des Projekts sagt, geht es darum städteübergreifend („connected“) zu arbeiten und einen guten Wissens- und Anwendungstransfer herzustellen. Dieser geschieht in zwei großen Bereichen: Einerseits bei der Datenrepräsentation, andererseits bei technischen Themen.
Im Bereich der Daten gibt es viele Fragen zu klären. Welche Daten nehmen wir etwa überhaupt zur Grundlage eines Zwillings? Unser Ziel ist die integrative, nachhaltige Stadtentwicklung, unser Fokus sind die Menschen, weshalb wir beispielsweise Mobilitätsdaten zu unbezahlter Sorgearbeit während der Coronapandemie aufgenommen und verarbeitet haben. Diese Daten geben andere Informationen über Mobilitätsmuster als die klassischen Datenerhebungen beispielsweise über den individuellen Autoverkehr.
Bei den technischen Themen wollen wir dagegen ein gemeinsames Verständnis von Datenstandards (DIN Normen), Datengovernance und Datensouveränität ausarbeiten. Bevor wir aber mit Modellierungen beginnen, müssen wir uns auf eine gemeinsame urbane Datenplattform verständigen, also auf ein System aus Systemen, das unterschiedliche Datenbanken und Quellen bündelt, die oftmals getrennt voneinander bestehen. Nur mit diesen Grundlagen können schon vorhandene Technologien wie beispielsweise das Hamburger „Digitale Partizipationssystem“ (Dipas) auch nach München und Leipzig transferiert werden, was einen wichtigen Kern des CUT darstellt. Das City Science Lab Hamburg leitet die Forschung in diesem Projekt und kooperiert mit Kolleg:innen der Geoinformatik der TU München und dem ScaDS.AI aus Leipzig. Gemeinsam forschen wir über das Modellieren von komplexen urbanen Systemen.
Modellieren komplexer Städte
Wenn wir den Begriff des Zwillings wörtlich nehmen, dann scheint es absurd, einen solchen Doppelgänger für eine Stadt bauen zu wollen, denn Abläufe in einer Stadt sind wesentlich komplexer als der Einsatz einer Schraube. Deshalb: Ein einfacher Zwilling einer Stadt existiert gar nicht. Ein Modell ist immer eine Simplifizierung, eine Abstraktion, die nie der Realität einer Stadt entspricht. Und trotzdem versuchen wir mit den Modellen der digitalen Zwillinge den Realitäten einer Stadt so nahe wie möglich zu kommen. Warum? Weil wir Voraussagen treffen und weil wir Daten zugänglich machen wollen. Über das Klima, den Verkehr oder das Verhalten von Menschen. Der Stadtplaner und Geograph Michael Batty betont, dass es im Kontext der Stadt darauf ankommt, wie das Modell mit der Realität interagiert und nicht darauf, die Realität möglichst zwillingshaft abzubilden. Wir modellieren also nicht eine Stadt, sondern gehen explorativ vor und sind uns bewusst, dass wir es dabei mit vielen Unschärfen und Unsicherheiten zu tun haben.
In der Technologieszene gleicht der Wunsch nach Skalierbarkeit einem Mantra. Man kann sich aber vorstellen, dass die Verbindung von städtischen Datensystemen komplex ist. Es gibt eine immense Fülle an Daten, deren Management für jede Stadt an sich schon eine Herausforderung darstellt, diverse Mentalitäten in den Behörden und unterschiedliche technischen Standards.
Das Ziel: Ein Baukasten für digitale Zwillinge
Insgesamt arbeiten circa 70 Personen aus unterschiedlichen Verwaltungen, Landesbetrieben, Unternehmen und der Wissenschaft an dem CUT-Projekt, das erst einmal auf fünf Jahre angelegt ist. Jede Stadt hat ihre eigenen Themen. Für die eine ist die Verbesserung der Bürgerbeteiligung wichtig, andere fokussieren eher das Thema Mobilität, wieder andere sind führend in der Setzung von Datenstandards.
Wir haben uns also darauf geeinigt, unsere Zwillinge als Baukastensysteme zu verstehen, in denen verschiedene Daten mit möglichst hoher Qualität niedrigschwellig für unterschiedliche Themen und Verfahren zur Verfügung gestellt werden.
Aufgrund von höheren Rechnerleistungen, besseren Sensoren und Darstellungsformen von Daten ist es jetzt möglich, solche großen Mengen von Daten aus verschiedenen Städten zusammenzufügen. Das wird eine Herausforderung bleiben, denn auch hier liegt der Teufel im Detail. Trotzdem zeigt sich der große Gewinn aus dieser digitalen Städtepartnerschaft schon jetzt, weil enormes Wissen gebündelt wird und wir gemeinsam gesellschaftliche Themen und technische Standards für urbane Zwillinge setzen können.